In einem freundlichen Dörfchen, an einem See, wohnte Lorenz mit seinen Eltern. Eine Wiese am See, die der Familie gehörte, war ein Tummelplatz für die Kinder, die sich in ihren Freistunden hier am liebsten versammelten. Schon oft träumten sie: „Hätten wir nur ein Schiff, das auf dem See schwimmen könnte!“ Und so manches Mal wurden kleine Kähne aus Baumrinde geschnitzt oder aus Papier zusammengefaltet; jubelnd saß dann die muntere Schar am Ufer und ließ ihre Fahrzeuge treiben bis das dünne Papier aufgeweicht war oder ein ungeschickter Stoß den Rindenkahn traf und weit vom Ufer abtrieb. Die Freude der Knaben war übergroß.

Eines Tages bekam Lorenz von seinem Onkel Detmold ein sehr schön ausgestattetes, kleines Segelboot geschenkt. Alle seine Freunde teilten mit lautem Jubel ihre Freude und Bewunderung mit. Nur einer der Knaben, Ernst, der Sohn eines armen Tagelöhners, blieb still. Er sah mit Neid auf das schöne Geschenk; seine Missgunst blieb Lorenz nicht verborgen.

Am Samstagnachmittag wollten sich alle Knaben wieder versammeln um das Boot seine erste Fahrt machen zu lassen. Mit Ungeduld wurde dem Tag entgegen geschaut. Lorenz erwachte früh. Besorgt blickte er zum Himmel auf ob nicht etwa Regen ihr Fest stören könnte. Aber, o Freude, die Sonne stand klar und freundlich da, und feuchter Tau im Grase verhieß einen schönen Tag. Lorenz beeilte sich heute mehr denn je, weil er noch vor dem Frühstück seinen Schatz im sicheren Hafen bewundern gehen wollte. Das kleine Herz pochte heftig, als er die ersten Spuren böswilliger Hand am Ufer von Ferne sah. Er eilte näher. Der Stein, den er vor die Bucht gelegt hatte, war weggewälzt – das schöne Boot war zerknischt. Einen Augenblick lang stand Lorenz wie versteinert da, dann brach er in Tränen des Schmerzes aus, bis er von Zorn überwältigt wurde: „Schändlich, der abscheuliche Bube!“, rief er. „Das konnte kein anderer als er gewesen sein, und nur, weil ich ihn nicht eingeladen habe. Was hatte denn auch dieser neidische Junge hier zu suchen? Ich habe es ihm wohl angesehen, dass er mir mein schönes Boot nicht gönnt. Aber warte nur, ich will’s dir heimzahlen!“, schwor er sich ärgernd. „Das soll dir nicht geschenkt sein.“ Einen Augenblick dachte er nach, ging die Wiese entlang. Später versteckte er sich hinter einem Gebüsch an einem schmalen Fußpfad, der zu dem Dorfe führte. Hier spannte eine Schnur über den Pfad und hielt das eine Ende lose in der Hand. Da nahten sich die Schritte; das musste Ernst sein, der um diese Zeit immer Milch und Eier zum Markt trägt. „Jetzt bist du dran“, dachte Lorenz und zog die Schnur straff an, damit Ernst darüber stolpern sollte.

Doch wie staunte er, als er nicht Ernst, sondern seinen Onkel Detmold erblickte, dem er es jetzt gerade am wenigsten wünschte. Schnell band er die Schnur los und wollte sie wieder einstecken. Aber Onkel Detmolds schneller Blick hatte ihn schon entdeckt: „Du hier, mein Junge?“, fragte der Onkel freundlich. Lorenz erzählte ihm in einem sehr kläglichen Ton das Unglück mit seinem Boot. Sogleich blitzte sein Zorn wieder auf: „Lass nur, der soll’s noch kriegen!“ „Nein“, sagte der Onkel, „was willst du ihm antun?“ „Was ich tun will? Ernst trägt immer Milch und Eier zum Markt; da will ich eine Schnur über den Weg ziehen, sodass er stolpern wird und seine Eier zu Bruch gehen werden“, erklärte er seinem Onkel. So ganz wohl war es ihm seinem Onkel gegenüber doch nicht zu Mute. Er erwartete eigentlich eine Lektion; daher war er nicht wenig erstaunt, als dieser sagte: „Ich finde auch dass Ernst bestraft werden muss. Die Idee mit der Schnur ist aber zu alt. Ich weiß etwas besseres!“ „Und was?“, fragte Lorenz neugierig. „Wäre es nicht besser feurige Kohlen auf dem Haupt des unartigen Knaben zu sammeln?“ „Willst du ihn denn verbrennen?“, fragte Lorenz fast erschrocken. Der Onkel nickte. „Ja“, sagte Lorenz, „das ist das beste! Sein Haar ist so dick, dass ihm die Kohlen, die er ja abschütteln kann, nicht viel schaden können. Wie wird er springen! Aber Onkel, wie willst du das denn machen?“

Onkel Detmold reichte Lorenz die Hand und sagte mit gedämpfter Stimme: „Wenn deinem Feind hungert, so speise ihn; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken; wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. Sieh, eine solche Strafe schreibt Gott vor. Wäre nicht auch das die beste Strafe für Ernst?“ Lorenz war verdutzt: „Das ist ja gar keine Strafe mehr Onkel?“ „Versuche es nur, behandle Ernst gütig, und ich kann dir mit Gewissheit sagen, dass das auf ihn stärkeren Eindruck machen wird als eine Tracht Prügel. Die Güte wird ihn bessern während jene andere Strafe ihn gleichgültig lassen würde.“ Lorenz war kein verdorbener, böser Knabe; wenn aber sein eigenes „Ich“ ihm nahe trat und ihn quälte, brach auch die Heftigkeit in seinen Gedanken und Taten hervor; er wollte sich immer gleich selbst Hilfe verschaffen. Kopfschüttelnd sah er den Onkel an und sagte: „Deine Kohlen brennen nicht?“ „Doch, sie brennen“, erwiderte er, „sie brennen nicht nur in das Haupt, sondern sie brennen auch durch bis ins Herz hinein und verzehren dort allen Neid, Zorn, Zank und manches Böse, was darin wohnt; sie machen das kalte Herz warm als wäre es im Feuer gewesen!“ Lorenz seufzte tief. „Onkel Detmold“, sagte er zaghaft, „zeige mir eine gute Kohle, die ich auf Ernsts Kopf legen kann!“ „Du weist, Ernst ist arm, er liest gern Bücher, und kann sich doch kein Buch kaufen; du aber hast eine kleine hübsche Büchersammlung. Jetzt kannst du wohl die Kohle selbst finden, aber die Hauptsache ist: Zünde sie mit Liebe an!“ Damit wandte sich der Onkel um und ging seines Weges.

Ehe sich Lorenz besinnen konnte, kam Ernst den Fußpfad daher, mit Eiern und Milch beladen. Lorenz dachte an seine Schnur; aber es war ihm nun lieber sie in seiner Tasche zu behalten. Ernst wunderte sich nicht wenig als er seinen Kameraden ganz verlegen dastehen sah. In seiner Verlegenheit fragte Lorenz: „Ernst, hast du manchmal Zeit ein Buch zu lesen?“ „Wenn ich die Arbeit in der Küche verrichtet habe, dann bleibt mir hin und wieder eine Stunde Zeit übrig, in der ich dann lese; aber ich habe alle Bücher, die ich nur bekommen konnte, schon mehrmals durchgelesen“, antwortete Ernst. „Willst du einmal den neuen Reisebericht haben, den mir mein Vater geschenkt hat?“, bot Lorenz ihm an. Ernsts ganzes Gesicht lachte: „Willst du mir den leihen? O, das ist prächtig! Ich verspreche dir auch recht behutsam mit dem Buche umzugehen!“ „Ja, das will ich dir leihen und auch noch andere Bücher, Ernst. Ich hätte dich auch gerne heute Nachmittag eingeladen, denn ich wollte mein neues Boot zum ersten Mal segeln lassen, aber jemand hat es mir zerbrochen. Weißt du, wer das gewesen sein könnte?“ Ernst ließ den Kopf sinken, sah aber bald auf und sagte mit großer Anstrengung: „Lorenz, sei nicht böse, das war ich. Es tut mir jetzt im Herzen leid. Als du mir das Buch anbotest, wusstest du nicht wie schlecht ich war!“ „Ich dachte es mir wohl, dass du es getan hast.“, sagte Lorenz langsam. Da schoss dem Ernst das Blut in das Gesicht, dass sein Kopf ganz schwer wurde und er ihn sinken ließ. Es schien ihm, als könnte er diese Hitze gar nicht lange aushalten und er lief so schnell er konnte davon. „Die Kohle brennt“, dachte Lorenz, „ich bin gewiss, Ernst hätte lieber die Eier zerbrochen gesehen, als das Buch angenommen.“

Als am Nachmittag die Kinder zu dem Fest zusammen kamen, war Ernst schon am Platz und versuchte den Schaden, so gut es ging, zu beheben. Er hatte auch noch eine hübsche Flagge für den Hauptmann selbst gebastelt. Nachdem am Abend die Knaben sich froh und munter getroffen hatten und Lorenz nun allein bei seinem Boote stand, trat Onkel Detmold zu ihm: „Nun, Lorenz, wie ist’s dir ergangen? Ich sah Ernst unter deinen Kameraden.“ „Onkel Detmold, ich danke dir.“, sagte der Knabe und sah zu ihm auf. „Ich will an deine Kohlen denken – wann immer ich das rechte Feuer dazu habe!“ „Das hohle dir vom Herrn Jesu.“, sagte der Onkel und legte die Hand auf den Kopf des Knaben. „Sieh'“, sagte er, als sie sich langsam dem Hause näherten, „Liebe zu empfangen, wo uns Strafe gebührt, das beugt das arme sündige, trotzige Herz am meisten und demütigt am tiefsten. Indem Gott uns seinen eingeborenen Sohn gab, dass Er für uns litt und am Kreuze starb, auf dass wir Frieden hätten. Er, der seinen eingeborenen Sohn nicht verschont hat, sondern ihn für uns alle hingegeben hat; sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“