„Onkel Theo! Onkel Theo! Komm schnell! Gusti ist auf dem Teich Schlittschuh gelaufen und eingebrochen!“, schrie Jost, die Tür zum Kuhstall aufreißend.

„Was sagst du da?“ Erschrocken sprang der Onkel vom Melkschemel auf. Er stieß dabei gegen den Eimer, so dass etwas Milch herausschwappte und sich auf dem roten Steinboden eine weiße Lache bildete.

„Ha-ha-ha! Reingefallen! Reingefallen!“, jubelte Jost, von einem Bein auf das andere hüpfend.

In diesem Moment erschien auch Gustis blonder Schopf in der offenen Stalltür. „Du hast es doch gewiss nicht im Ernst geglaubt, Onkel?“, fragte er lachend. Dem Onkel stieg eine dunkle Röte in die Stirn. Seine Augen loderten. „Natürlich, habe ich es geglaubt!“ „Ha-ha-ha! Aber Onkel es war doch nur ein Scherz.“ „Ein Scherz, sagst du? Nein, mein Junge, das war kein Scherz mehr, sondern gelogen. Das hätte ich von euch, die ihr doch dem Herrn Jesus nachfolgt, nicht gedacht.“ Onkel Theo drehte sich um und ließ sich schwerfällig auf den Melkschemel fallen. Jost und Gusti machten betretene Gesichter. „Ich dachte immer, du verstehst Spaß.“ antwortete Jost beleidigt. „Komm, Gusti, gehen wir wieder.“ „Wohin denn?“, fragte Gusti mürrisch, den Kragen seiner dicken Jacke hochschlagend. „Wir können doch noch ein bisschen Schlittschuh laufen.“ „Mir ist die Lust vergangen.“, knurrte Gusti. „Mir nicht!“ Jost schob trotzig seine Unterlippe vor. „Ich lass mir doch von Onkel Theo nicht den Nachmittag verderben. Der hat als Junge wohl nie irgendwelche Dummheiten gemacht?“ „Du weißt doch, wie er ist.“, versuchte Gusti einzulenken. „Er meint eben, als Christ müsse man den ganzen Tag betend zu Hause sitzen und die Bibel lesen.“

„So ein Quatsch!“ Jost kniete sich in den weichen Schnee und schnallte sich die Schlittschuhe an. „Naja, ganz richtig war es ja auch nicht von uns, ihn so reinzulegen.“, gestand Gusti ein. „Ach komm, mach nicht so ein Sauergurkengesicht. Es war ja nur ein Scherz.“ „In den zehn Geboten steht aber doch: Du sollst nicht lügen.“ „Mensch, Gusti, was ist denn auf einmal mit dir los?“ Jost richtete sich aus seiner gebückten Haltung auf. „Zuerst warst du mit allem einverstanden und jetzt spielst du dich als Moralprediger auf. Was können wir denn dafür, dass Onkel Theo so übertrieben fromm ist? Los, schnall‘ deine Schlittschuhe an! Ich fahre los.“

Gusti sah seinem Bruder nach, wie er leichtfüßig über das Eis glitt. Gusti kräuselte die Stirn. Der eine Satz des Onkels kam ihm nicht aus dem Sinn: „Das hätte ich von euch, die ihr doch dem Herrn Jesus nachfolgt, nicht gedacht.“ War es denn wirklich so schlimm gewesen? Sie hatten sich doch bloß einen Spaß erlauben wollen. Dass Onkel Theo so sauer reagieren würde, hatten sie nicht voraussehen können. Gusti seufzte tief: „Vielleicht hatte Onkel Theo mit seiner Behauptung, dass sich solche Scherze für ein Gotteskind nicht gehören, doch recht.“ „Hey, steh‘ nicht da wie ein Ölgötze, komm aufs Eis!“, schallte wieder Josts Stimme über den Teich. Gusti zuckte leicht zusammen. Er war so in Gedanken versunken, dass er Jost’s Gegenwart völlig vergessen hatte. „In der Mitte ist es noch nicht ganz so dick“, warnte Jost, als Gusti angefahren kam. „Wir können ja am Rand bleiben.“ Gusti stieß sich mit dem linken Fuß ab und drehte auf dem glatten Spiegel des Teiches ein paar Kreise. „Hallo! Hallo!“ Gusti blieb stehen. „Wer war das?“ „Henner, schau, da kommt er.“ Jost wies zum anderen Ufer, wo die hoch aufgeschossene Gestalt des Nachbarjungen hinter den kahlen Büschen auftauchte. Henner winkte mit beiden Armen: „Hält es?“, rief er. „Ja, am Ufer geht es!“, erwiderte Gusti. Henner hatte die Schlittschuhe angeschnallt und kam mit weit ausholenden Schritten angesaust. „Habt ihr es ausprobiert?“ Er hauchte in seine blau gefrorenen Hände. „Was?“, fragte Jost erstaunt. „Na, ob es in der Mitte hält?“ „Nein. Das sieht man doch“ „Pah!“ Henner sah Jost verächtlich an. „So was probiert man aus.“ „Dann mach es doch“, entgegnete Jost mürrisch. „Kommst du mit?“, lauerte Henner. „Nee, mein Lieber, ich kann auf ein kaltes Bad verzichten.“ „Feigling!“, zischte Henner. „Ich bin kein Feigling!“ Jost’s Augen begannen gefährlich zu funkeln. „Das nimmst du zurück!“ „Ich denke gar nicht daran, du – Muttersöhnchen.“ Lachend stieß sich Henner mit dem Fuß ab und fuhr davon. Jost ballte die Hände zu Fäusten. „Das nimmt er zurück.“ Er knirschte mit den Zähnen. „Lass ihn doch, den alten Angeber.“ Gusti legte beschwichtigend die Hand auf den Arm seines Bruders . „Du weißt doch, dass er immer stänkern muss, wenn wir zusammen sind.“ „Komm doch, Mamakind!“, erschallte Henners Stimme über den Teich. „Du, Feigling! Du lahme Ente! Du Betschwester!“ „Jetzt reicht’s mir!“ Jost sauste los, das Eis sprang unter seinen Füßen, der eisige Wind schnitt in sein Gesicht. Er merkte in seiner Wut nicht, wie Henner ihn in heimtückischer Weise immer mehr in die Mitte des Teiches lockte. Gusti, der noch am Ufer stand, merkte auf einmal Henners Absicht.

Kaltes Entsetzen packte ihn. Er legte beide Hände trichterförmig vor den Mund und schrie aus Leibeskräften: „Jost! Jost! Komm zurück!“ Doch Jost hörte ihn nicht. Er sah nur die biegsame Gestalt Henners vor sich, die er um jeden Preis einholen wollte. Henner hatte fast die Mitte des Teiches erreicht, als er plötzlich einen Hacken schlug. Das Eis krachte gefährlich unter seinen Füßen, doch er erreichte noch das rettende Ufer. Keuchend drehte er sich um. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Er wollte schreien, doch es wurde nur heiseres Flüstern: „Jost, nein, das habe ich nicht gewollt!“ Ein gellender Schrei hallte über den Teich, als die dünne Eisdecke unter Jost einbrach. Er taumelte, seine Hände suchten vergebens nach einem Halt – dann versank er in dem dunklen, kalten Wasser. Jetzt kamen Kerben in Henners vor Schreck entstellte Gesicht. Auf dem Bauch liegend, schlich er sich vorsichtig an die Unglückstelle heran. Er bekam Jost am Armen zu fassen und versuchte ihn auf das Eis zu ziehen. „Schnell, hole deinen Onkel, Gusti!“, stieß Henner keuchend hervor. „Allein… allein schaffe ich es nicht!“ Gusti lief los. Völlig außer Atem erreichte er den Hof. Das große Scheunentor stand offen. Gusti rannte hinein. Im Dämmerlicht sah er den Onkel dastehen. „Komm schnell, Onkel Theo! Jost ist im Eis eingebrochen!“ Langsam drehte der Onkel sich um. Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah er Gusti an: „Noch einmal legt ihr mich nicht rein.“ „Aber Onkel!“, schrie Gusti laut auf, „Jost ertrinkt doch!“ Der Onkel lachte kurz und trocken auf: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, mein Junge.“ Er wandte sich zum Gehen. „Ich habe nicht gelogen!“ Gusti umklammerte den Arm des Onkels. „Schnell, komm, Henner schafft es doch nicht allein.“ „Lass mich in Ruhe!“, fuhr der Onkel ihn barsch an und versuchte seinen Arm aus Gustis Umklammerung zu befreien.

„Lieber Heiland, dann hilf du!“ Schluchzend sank Gusti auf ein Bündel Stroh. Onkel Theo blieb stehen: „Ist er wirklich eingebrochen?“ Seine Stimme klang rau von innerer Erregung. „Ja, ja!“ Mit hastigen Bewegungen riss der Onkel eine Leiter von der Wand, rief den Knecht und verließ dann im Laufschritt den Hof.

Jost richtete sich im Bett auf. „Onkel Theo, kannst du mir verzeihen?“ Bittend streckte er dem Mann am Fenster die Hände entgegen. Der Onkel drehte sich um und trat an das Bett seines Neffen. Unbeholfen strich er ihm über das Haar. „Ein Scherz kann oft böse Folgen haben, mein Junge“, sagte er mit belegter Stimme, „du hättest es beinahe mit dem Leben bezahlen müssen.“ „Ich war ja selber schuld“, entgegnete Jost zerknirscht, „das war eben die Strafe. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht auch wenn er dann die Wahrheit spricht. Ich werde es nie wieder tun, Onkel Theo!“, beteuerte Jost, „nie wieder.“

Der Onkel sah Jost ernst an. „Du kannst Gott danken, dass es so gut ausgegangen ist und du nur eine tüchtige Erkältung davongetragen hast.“ „Das habe ich schon getan, Onkel Theo“, erwiderte Jost lebhaft, „ich habe ihm mein Herz ganz neu übergeben.“ „Das freut mich aber sehr, Jost.“ Der Onkel nahm Josts Hand in seine rauen Arbeitshände. Da wurde die Tür aufgerissen und Gustis blonder Schopf erschien. „Jost, du bekommst Besuch!“ „Von wem denn?“ „Henner!“ „Lass ihn rein kommen!“ Als kurz darauf Henner schüchtern das Krankenzimmer betrat, verließen der Onkel und Gusti den Raum. „Jost, es tut mir leid.“, stotterte Henner. Sein Gesicht war schneeweiß, die Augen standen voll Tränen. „Es … es war gemein von mir dich in die Mitte zu locken.“ Er zerrte ein nicht mehr ganz einwandfreies Taschentuch aus seiner Hose und putzte sich energisch die Nase. „‚Ist gut, Henner!“ Jost streckte ihm die Hand hin. „Komm, lass uns Freunde sein!“ „Willst du das wirklich?“ „Ja, es ist mein voller Ernst.“ „Du, Jost?“ Henner setzte sich scheu auf die Bettkante. „Ja, bitte?“ „Als ich dich im Wasser festhielt und das Eis unter mir zu knirschen begann, da… da habe ich gebetet und gesagt, wenn wir beide hier lebend herauskommen, dann wollte ich, … – dann … dann …“ Henner schluchzte plötzlich auf. „Willst du ihm auch dein Herz schenken?“, fragte Jost mit vor Bewegung zitternder Stimme. „Ja. Meinst du, dass er mich annimmt?“ „Na klar, Henner! Mich hat er ja auch angenommen. Komm, wir sagen es ihm jetzt gleich hier.“ Henner kniete neben Josts Bett nieder und übergab sein Herz und Leben dem, der auch für seine Sünden gestorben ist.

„Nun hat sich doch alles zum Guten gewendet“, sagte Onkel Theo am Abend, als Jost ihm erzählte, dass nun auch Henner ein Gotteskind geworden ist.