Rudolf kam, wie gewöhnlich, müde von der Tagesarbeit nach Hause. Wieder war ein Tag vergangen, an dem er allerlei Nebenarbeiten im Geschäft von „Klein Günther“ zu tun gehabt hatte. „Mutter“, sagte er, „ich kann den Bibelvers nicht verstehen: Werdet nicht der Menschen Knechte. Ich bin doch sicher der Menschen Knecht!“ Frau Mason war etwas erstaunt über diese Worte. Rudolf, seinen Vorteil wahrnehmend, fuhr fort: „Ich wurde herumkommandiert von morgens bis abends. Ich habe die ganze schwere Arbeit zu verrichten und niemand erkennt sie an.“ Nach einer kleinen Pause sagte er: „Ich habe schon so oft darüber nachgedacht seitdem ich ein Christ geworden bin. Ich möchte lieber dem Herrn in Freiheit dienen, als in Sklaverei dem „Kleinen Günther“. Ich glaube, der Herr hat auch eine Arbeit für mich, bei der ich mein eigener Herr sein kann.“ Als Rudolf wieder ausgeruht und zufrieden an seine Arbeit ging, dachte er noch einmal über die Bibelstelle nach. Eigentlich könnte er den Vers nicht so auslegen, wie er ihn seiner Mutter ausgelegt hatte. Und doch war er davon überzeugt, dass er nicht den richtigen Arbeitsplatz habe.
Im Laufe des Tages ging einer der Angestellten durch den Keller, in dem Rudolf eifrig Äpfel sortierte. „Warum arbeitest du so angestrengt, wenn der Geschäftsführer nicht anwesend ist, Rudolf? Du bekommst doch dasselbe Gehalt. Ich würde mich nicht für dumm verkaufen lassen. Ruhe dich doch aus, wenn du Gelegenheit dazu hast“, riet ihm der Arbeiter. Rudolf lachte ein wenig und erwiderte, dass er niemals daran gedacht hätte, ob seine Herren da seien oder nicht. „Du kannst dir eine Menge Mühe und Arbeit ersparen“, sagte der Kontorarbeiter. „Wenn die Katze nicht im Hause ist, können die Mäuse auf den Tischen und Bänken tanzen.“ Mit diesen Worten ging er zu seinen müßigen Kameraden zurück, die ebenso dachten wie er. Rudolf hörte, wie sie sich über ihn lustig machten und er musste daran denken, dass es doch nicht recht sei auf diese Weise das Vertrauen, das Herr Klein ihnen schenkte, während seiner Abwesenheit zu missbrauchen. Dennoch kamen auch ihm die Gedanken, ob er sich nicht ein wenig unabhängiger verhalten, und dort, wo ihn niemand sah, seinen eigenen Vergnügungen nachgehen sollte. Er hielt aber gar nicht erst mit der Arbeit an, um diese Frage näher zu betrachten. Die Treue war ihm so zur Gewohnheit geworden, dass er gar nicht anders handeln konnte.
Als er am Abend nach Hause kam, sagte seine Mutter: „Ich habe die Bibelstelle aufgesucht, die sagt: Werdet nicht der Menschen Knecht, und ich habe herausgefunden, dass sie mehr bedeutet als du denkst, mein Sohn. Bringe deine Bibel her und lass uns zusammen lesen“. Dies gefiel dem jungen Mann, denn er liebte seine Bibel sehr. „Lies 1. Kor. 7, 21-24.“ Rudolf las: „Bist du als Sklave berufen worden, so lass es dich nicht kümmern; wenn du aber auch frei werden kannst, mach um so lieber Gebrauch davon! Denn der als Sklave im Herrn Berufen ist ein Freigelassener des Herrn; ebenso ist der als Freier Berufene ein Sklave Christi. Ihr seid um einen Preis erkauft. Werdet nicht Sklaven von Menschen! Worin jeder berufen worden ist, Brüder, darin soll er vor Gott bleiben.“ Nachdem er dies gelesen hatte, sagte er: „Jetzt scheint es ganz anders. Es sagt hier sogar, dass jeder darin bleiben soll, wozu Gott ihn berufen hat; und dass wir nicht der Menschen Knechte werden sollen. Aber wie kann das sein, wenn einige zu Knechten des Menschen berufen sind? Und wie kann ein Knecht ein Freier sein?“ „Ich will nicht versuchen, dir die rechte Antwort zu geben, aber lass uns wieder die Worte Paulus‘ aufschlagen“. erwiderte die Mutter. Rudolf las Eph. 6, 5-8, wo es heißt: „Ihr Knechte, seid gehorsam euren leiblichen Herren mit Furcht und Zittern, in Einfältigkeit eures Herzens als Christo. Nicht mit Dienst allein vor Augen, als den Menschen zu gefallen, sondern als die Knechte Christi, dass ihr solchen Willen Gottes tut von Herzen, mit gutem Willen. Lasset euch dünken, dass ihr dem Herrn dienet und nicht den Menschen, und wisset, was ein jeglicher Gutes tun wird, das wird Er von dem Herrn empfangen, Er sei ein Knecht oder ein Freier. Nun weiß ich, was damit gemeint ist,“ erwiderte der Jüngling, „der Herr will, dass wir ihm dienen sollen, selbst wenn wir von den Menschen beschäftigt werden.“ „Das ist richtig, mein Sohn – so ist die Stelle auch gemeint. Ein wahrer Christ ist stets ein Diener Christi, sei er ein Herr oder ein Diener; sei er hoch oder niedrig gestellt. Wir alle haben nur einen Herrn.“ „Aber ein junger Mann sagte mir heute, dass ich dumm sei, wenn ich immer so treulich weiter arbeite, wenn Herr Klein nicht da ist. Ich sollte freier sein. Er sagte: Ich würde doch bezahlt werden, ob ich nun ein wenig ruhe oder weiter arbeite. Aber dies stimmt nicht mit dem überein, was wir eben gelesen haben. Es ist doch ein großer Unterschied zwischen der Freiheit des Apostel Paulus und der Freiheit dieses Mannes! Der Dienst Christi scheint mir die rechte Freiheit zu sein und dennoch verstehe ich es nicht ganz.“
„Die wahre Freiheit, mein Sohn, besteht nicht darin, dass wir uns selbst befriedigen oder tun, was uns gefällt. Die wahre Freiheit erkennen wir immer an den Früchten der Menschen. Der Mensch, der seinen eigenen Weg geht, ist sein eigener Sklave. Selbstbeherrschung ist die erste Bedingung der Freiheit.“ „O, ja, jetzt sehe ich es schon,“ sagte Rudolf, „wenn wir unsre eigenen Herren sind, sind wir Sklaven Satans, weil in uns selbst nichts Gutes ist; Die Sünde nimmt uns gefangen und überliefert uns dem Tod.“ „Das ist richtig, Rudolf. Wenn wir uns von Christus leiten lassen, erhalten wir geistliche Kraft und kommen der ewigen Seligkeit immer näher.“ „So will ich denn,“ fuhr der junge Mann fort, „ein Freier in dem Herrn sein und dort bleiben, wo Er mich hingestellt hat. Ich glaube, dass es mein Vorrecht ist, dem Herrn dienen zu dürfen, wenn dies der Platz ist, an dem Er mich haben will, indem ich die Waren auspacke und die Pakete zur Post trage. Und Treue zu Christus meint Treue zu meinen Geschäftsführer.“
So war es auch. Der Mann, der Rudolf den bösen Vorschlag gemacht hatte, gehörte zu denen, die fortgeschickt wurden, um in der „Freiheit“ eine andere Arbeit zu finden. Aber Rudolfs Treue wurde bald belohnt. Er erhielt mit der Zeit eine immer bessere Stellung, obgleich er selber nicht wusste warum. Er wollte als nichts mehr erscheinen als was er war; und wenn er die eine Arbeit treu getan hatte, nahm er stillschweigend eine andere auf. Er war daher auch sehr überrascht, als er eines Tages ins Kontor gerufen wurde und man ihm dort mitteilte, dass er Geschäftsführer eines anderen Geschäftszweiges in einer entfernten Stadt werden solle. „Sie sind im Kleinen getreu gewesen,“ sagte Herr Klein, „wir wollen Sie über viel setzen.“