Der kleine Heinrich durfte jeden Tag mit dem Vater in den Garten gehen. In dem Garten standen viele schöne Bäume: Kirsch-, Apfel-, Birnen-, Pflaumen- und Nussbäume – das war so schön! Aber wie freute sich Heinrich, als er eines Tages eine schöne Birne an dem ganz kleinen Bäumchen sah! „O, Vater“, rief Heinrich auf einmal, „siehe doch diese schöne dicke Birne. Ich möchte hinein beißen!“ „Nein, mein Kind“, sagte der Vater „wir wollen sie heute noch hängen lassen, sie wird über Nacht vollends reifen und dann wird sie gut schmecken.“
Als es Abend war und die Mutter Heinrich ins Bett brachte, war er, als er sein Abendgebet sprach, gar nicht wie sonst. Die Mutter dachte, Heinrich wäre müde und rief gleich seine etwas größere Schwester Lina herbei und sagte: „Lina, du bist doch wohl auch müde; komm, lege dich auch zu Bette, dass ihr beide, Heinrich und du, gut ausschlafen könnt.“ Die Mutter sprach noch mit Lina, aber Heinrich horchte gar nicht auf das, was beide miteinander so eifrig ausmachten. Er dachte immerzu an die Birne. Lina war bald eingeschlafen, auch die Eltern waren endlich zu Bett gegangen. Nun war im Hause alles still, nur Heinrich war immer noch wach und dachte an die schöne Birne. „Ich möchte gerade hingehen und die Birne abpflücken“, dachte Heinrich bei sich selbst. Aber dann dachte er wieder, was wohl der Vater sagen würde. Vielleicht wird er glauben, der Wind habe sie herunter geweht oder böse Buben haben sie in der Nacht geholt. Ganz gewiss wird Vater an mich nicht denken.
Wer hätte das gedacht: Heinrich stand ganz leise auf und lief auf Zehenspitzen hinaus in die Küche, sodass Lina nur ja nichts höre. Von hier aus führte eine Tür in den Garten. Heinrich horchte noch einmal – es war ganz still, nichts regte sich. Ganz, ganz leise machte er die Hintertür auf und trat in den Garten hinaus. Er lief zwischen den Bäumen her, und stand bald darauf vor dem kleinen Birnenbäumchen. Obwohl das Bäumchen klein war, konnte er die Birne nicht fassen, so sehr er sich auch streckte. „O, wie schade!“, dachte Heinrich. Aber gleich darauf fiel ihm ein, dass an der Laube ein Fußbänkchen steht. Er holte es, stellte sich darauf, und griff mit der Hand die Birne; er musste sie nur vollends losmachen und die schöne, dicke Birne würde ihm gehören, ihm ganz allein. „Doch da, was glänzt dort so helle durch die Bäume?“ wunderte sich Heinrich. Es war der Abendstern als Auge Gottes. „Du, Gott, siehst mich!“ Diese Worte fielen Heinrich ein. Er ließ die Birne hängen, stieg von dem Fußbänkchen hinunter und lief, so schnell er konnte, ins Haus zurück; dort legte er sich zitternd wieder in sein Bettchen. Ja er weinte ganz bitterlich darüber, dass er den lieben Gott vergessen hatte, der doch alles sieht. Endlich war er eingeschlafen.
Als er erwachte, schien die Sonne ganz hell durch das Fenster. Heinrich rieb sich die Augen und sah sich im Zimmer um. Lina war nicht mehr da. Sie war schon aufgestanden. Aber was war denn das? Dort auf dem Tischchen lag ja ein Kranz und in der Mitte auf einem Tellerchen lag nun, wer errät es, die Birne. Ja, die Birne! Denkt nur, die schöne Birne. Im selben Moment kam die Mutter herein und rief schon an der Tür: „Guten Morgen, mein lieber Heinrich, du hast ja heute deinen Geburtstag. Heute vor fünf Jahren hat dir der liebe Gott das Leben geschenkt! Aber Heinrich, warum weinst du denn?“ „O, Mutter, ich bin ein böser, böser Junge!“ Und nun erzählte Heinrich was er in der Nacht getan hatte. Die Mutter betete mit Heinrich um ein neues Herz. Heinrich hat diesen Tag nicht vergessen und wenn er Böses tun wollte, dachte er jedes Mal an die Worte: „Du, Gott, siehst mich!“