Schlagwörter: Barmherzigkeit, Liebe, Nächstenliebe
Eine wohlhabende Frau ging nachmittags über den Markt. An einem Stand sah sie so schöne Apfelsinen liegen, dass Sie Lust bekam, sich eine zu kaufen. Als die Frau ihr Portemonnaie herauszog, bemerkte sie, dass nur noch ein Groschen drin war. Schon nahm sie ihn in die Hand, doch sie dachte: „Nein, du hast dein Gutes heute Mittag schon gehabt; es wäre doch nur eine Leckerei; du kannst den Groschen für etwas viel besseres anwenden.“ Sogleich kam sie an einer Gasse vorbei, in der eine arme Witwe wohnte, die sich und ihre fünf Kinder notdürftig durch die Arbeit ihrer Hände ernährte. Es trieb die wohlhabende Frau, einmal nach der Witwe zu schauen. Als sie das Stübchen der Witwe betrat, bemerkte sie, dass jene geweint hatte; auf ihre teilnehmende Frage hin erzählte sie, dass sie heute früh den letzten Pfennig für Brot ausgegeben habe, und sie erst morgen mit ihrer Näharbeit fertig werden würde; erst dann bekäme sie wieder Geld. Dass der Briefträger in ihrer Abwesenheit da gewesen sei, und ihr die Nachricht hinterlassen habe, dass ein nicht genügend frankierter Brief für sie im Postamt bereit läge; sie solle nur jemand mit einem Groschen vorbei schicken, um den Brief einzulösen. Es sei ein Brief aus P., ihrem Heimatort. Beinahe schluchzend fügte die Witwe hinzu: „Sicherlich ist der Brief von meinem alten Vater, der mir seit zwölf Jahren nicht geschrieben hat; er hat mich verstoßen, weil ich mich gegen seinen Willen verheiratet habe; und nun kann ich den Brief, der vielleicht Wichtiges enthält, nicht einmal einlösen!“ Sofort wurde der älteste Sohn der Witwe mit dem gesparten Groschen der wohlhabenden Frau zur Post geschickt.
Der Brief war von der Tante der Witwe und enthielt die Nachricht, dass der Vater schwer krank sei und dringend nach der Tochter verlange, um sich mit ihr zu versöhnen. Sie solle so schnell wie möglich kommen, da der Vater wohl nur noch ein paar Stunden zu leben habe.
Mit Hilfe jener Wohltäterin, die während der Zeit für die Kinder zu sorgen versprach, konnte die Witwe sofort abreisen.
Mitten in der Nacht kam sie in der Heimat an. Leise betrat sie das Zimmer des todkranken Vaters und sank an seinem Bett auf die Knie; er erkannte die Tochter sogleich, die ihm einst so bitteren Kummer bereitet hatte; jetzt war alles vergessen; er verzieh der reumütigen Tochter und erteilte ihr seinen Segen. In ihren Armen schlummerte er nach wenigen Stunden friedlich ins Jenseits hinüber. Zuvor hatte er noch soviel Kraft besessen, sein Testament zu ändern um die verstoßene Tochter wieder in ihr Erbteil einzusetzen.
Die Witwe, die mit einem Schlage der elenden Armut enthoben wurde, bezog mit ihren Kindern das väterliche Haus und ist nun selbst eine Wohltäterin der Armen geworden. Zum Andenken daran, dass ihr in so ernster Stunde und gerade zur richtigen Zeit durch einen Groschen geholfen wurde, stellte sie auf dem Kaminsims ein Kristallgefäß und legte einen Groschen darein.
Jene hilfreiche Frau aber war glücklich, dass sie auf die Apfelsine verzichtet und den Groschen für etwas Besseres verwendet hatte.