Ein Amerikaner saß an der Tafel seines deutschen Geschäftsfreundes. Auch andere Gäste waren zu Tische; unter ihnen auch ein Gymnasiast, der zweimal wöchentlich einen Freitisch bei dem wohlhabenden Hausherrn hatte. Er war sehr traurig und sagte zu seinem Tischnachbar halblaut: „Ich habe heute so viel Elend gesehen, dass mir der Appetit vergangen ist.“ Der Amerikaner forderte ihn auf zu berichten. Er erzählte nun eine traurige Geschichte:
In demselben Hinterhause wo er wohnte, lebte ein Ehepaar mit fünf Kindern. Die Leute hatten sich gut und ehrlich durchgeschlagen, bis sich der Mann, ein Schieferdecker, durch einen Sturz vom Dache beide Beine gebrochen hatte; dadurch ist er erwerbsunfähig geworden. Zuerst hatte die Frau mutig den schweren Schlag ertragen und tapfer weiter gearbeitet; doch jetzt liegt sie mit Fieber elend danieder; großer Jammer ist bei der einst so glücklichen Familie eingekehrt; die Kinder schreien nach Brot und die hilflosen Eltern können nichts tun, als mit ihnen zu hungern.
Schweigend hörte die Gesellschaft dem Erzähler zu. Als er zu Ende erzählt hatte, sprach einer nach dem andren seine Anteilnahme aus. „Ach wie traurig!“ „Wie bedauernswert sind doch die armen Leute!“ „Ach wie viel Unglück gibt es doch auf der Welt!“ Nachdem man so gewissermaßen seine Schuldigkeit getan hatte, sprach man wieder von anderen Dingen. Da stand der Amerikaner auf und schlug an sein Glas: „Ich bedaure die arme Familie mit 100 Mark“, sagte er, und legte 100 Mark auf den Teller. „Mit wieviel bedauern Sie die Leute?“, wandte er sich an seinen Wirt. Dieser legte schweigend eben so viel vor sich hin, und dann fragte er weiter um den Tisch herum, und siehe, jeder Gast „bedauerte“ jetzt die armen Unglücklichen nicht nur mit Worten, sondern auch mit der Tat. Nach wenigen Augenblicken überreichte der Amerikaner seinem jungen Freund eine große Summe für die arme Schieferdeckerfamilie.