Es war Sonnabend Mittag und die Schule war aus. Fröhlich und wohlauf gingen die Kinder heim. Man hörte kein wildes Geschrei und Lärmen, denn der Lehrer stand in seiner Haustür und sah ihnen nach. Die Kinder wollten den alten Mann nicht betrüben, weil sie ihn so lieb hatten.

Ernst und Gottlieb, die auf der Schulbank nebeneinander saßen, wohnten im Nachbardorfe und gingen nun miteinander aus der Dorfgasse hinaus ins Freie. Ernst pfiff lustig vor sich hin. Nach einer Weile sah er seinen Kameraden von der Seite an und fragte: „Warum bist du denn so schweigsam, Gottlieb? Der Schulmeister hat dich ja heute besonders gelobt, weil du die zehn Gebote so fließend hast hersagen können, wie wir anderen es nicht hätten besser machen können.“ „Ja, das freut mich wohl, aber mich hungert so sehr! Die Mutter liegt schon eine ganze Woche krank danieder und kann nichts verdienen. Heute früh gab´s keinen Bissen Brot mehr im Schrank und ich musste mit nüchternem Magen in die Schule gehen. Wenn ich heim komme, meinte die Mutter, hätte die Nachbarin vielleicht ein Krüglein Buttermilch gebracht. Aber sie ging mit einem Korb Eier in die Stadt und ist noch nicht wieder zurück gekommen.“ „Weißt du was, Gottlieb“, schlug Ernst vor, „wir kommen gleich an dem Felde mit den Gelbrüben vorbei, welches dem reichen Schulzen gehört. Dort werden wir ein paar Hände voll Rüben ausrupfen; das wird den größten Hunger stillen. Ich habe auch immer Lust zum Essen.“ „Nein, Ernst“, entgegnete Gottlieb, „das wäre ja gestohlen.“ „Meinst wohl, ich könnte die zehn Gebote auswendig hersagen, aber halten wollte ich sie nicht.“ „Der Herr Schulmeister hat heute wieder erklärt, dass jeder Apfel an einem fremden Baum und jede Ähre auf einem fremden Acker zu des Besitzers Geld oder Gut gehöre und wir sie nicht nehmen sollen. Nein, lieber will ich weiter hungern.“ „Weil du ein Narr bist, Gottlieb! Was wird es dem reichen Schulz schaden, wenn wir uns ein paar Rüben von seinem Acker holen? Er hat doch genug!“ Gottlieb schüttelte den Kopf. Schweigend gingen die beiden Kinder ihres Weges. Jetzt sprang Ernst über den Graben, auf das Feld mit den gelben Rüben. Er zog ein paar davon heraus und zeigte sie dem Schulkameraden. „Willst du? Ich gebe sie dir, da hast du sie ja nicht gestohlen.“, sagte er lachend und warf ihm die Rüben zu. Gottlieb hätte beinahe zugegriffen, denn der Hunger tat weh! Aber als er sich bückte, sah er hinter sich die Spitze des Kirchturms in der blauen Sommerluft, und es war ihm jetzt so, als strecke der alte Schulmeister seinen Finger warnend in die Höhe. Da ließ er die Rüben liegen und sagte: „Ich weiß, was ich mache. Ich laufe ins Dorf zurück und bitte den Schulzen, dass ich mir ein paar Rüben nehmen darf. Dann ist’s keine Sünde.“ „Dabei wirst‘ schön ankommen“, spottete Ernst, „und der Schulze ist ein Geizhals. Nimm dich in Acht, dass er nicht den Hofhund auf dich hetzt, wenn du ihn anbettelst.“ Aber Gottlieb ließ sich nicht irre machen. „Bitten ist nicht verboten, aber stehlen.“, dachte er und ging ins Dorf zurück.

Sein Herz klopfte heftig, als er in des Schulzen Haus eintraf – aber er hatte ja nichts Unrechtes im Sinne. Die Tür zur Wohnstube stand weit offen; der Schulze war nicht darin. Ein Mann mit einer Brieftasche und einem roten Kragen am Rock stand vor der Schulzenfrau, die neben einer Speckseite und einem großen Stück Rauchfleischabschnitt, die sie vor sich auf dem Tische liegen hatte, stand. „Ihr habt mir da gute Botschaft gebracht, Briefträger.“, sagte sie, „In dem Brief, da steht’s, dass mein Mütterchen wieder gesund geworden ist. Das freut mich über die Maßen. All die Tage war mein Herz so voll Kummer, dass ich nicht zu ihr hingehen und sie pflegen konnte. Aber der Schulze, meine ich, dürfe doch die große Wirtschaft nicht im Stich lassen. Ha, Gott sei Lob, dass wieder alles im rechten Gange ist. Sie aber sollen zum Dank für den guten Brief, den Sie mir gebracht haben, für eure Frau ein Stück Rauchfleisch mit heimnehmen.“ Der Postbote bedankte sich herzlich. Da sah die Bäuerin den Gottlieb in der Tür stehen. „Willst du auch ein Stückchen?“, fragte sie lachend, „jetzt habe ich das Messer noch in der Hand. Bist wohl ein Kind von armen Leuten und musst den Bissen Brot immer trocken essen, wie?“ Gottlieb wurde ganz rot vor Freude. „Ich wollte nur schön bitten, ob ich mir ein paar gelbe Rüben aus dem Felde holen dürfe“, stotterte er, „mich hungert schon seit heute früh, und meine Mutter ist krank, sonst müsste ich nicht Not leiden.“

„Armes Kind“, sagte die freundliche Frau, und sah ihn mitleidig an, „iss geschwind einen Bissen Fleisch und Brot, und ich packe dir was für deine Mutter ein; ´s ist Korias; das gerade des Fleischers Hund meiner fettesten Henne ins Bein gebissen hat! Die habe ich schlachten müssen. Nun kannst du sie der kranken Mutter mitnehmen; das gibt eine gute Suppe und hilft zur schnellen Genesung. ´Musst? den lieben Gott nur schön darum bitten, und hör‘, es ist richtig von dir, dass du wegen der Rüben erst fragen gekommen bist. Ich will’s dem Schulzen sagen, wenn er heim kommt, den wird’s freuen und er wird es wohl zulassen, dass du dir jede Woche ein Brot holen darfst, solange deine Mutter nichts verdienen kann.“ Gottlieb konnte vor Freude kaum reden. „Gott vergelt’s! Gott vergelt’s!“ mehr brachte er nicht heraus und er lief, so schnell er laufen konnte heimwärts. Draußen vor dem Dorfe stand Ernst und wartete neugierig auf den Schulkameraden. Dieser kam jetzt reich beladen an; in der einen Hand hielt er das gute fette Huhn, in der anderen ein voll gepacktes Tuch: ein Brot und ein Stück Speck. Er hielt seine Schätze in die Höhe und rief schon von weitem: „Guck einmal, was ich darbringe! Ich habe nicht darum gebettelt; die Schulzenfrau hat’s mir freiwillig gegeben. O, die war gut! Es ist mir nur lieb, dass ich keine Rüben gestohlen habe; du tust das auch nicht wieder, Ernst?“