Da stehen sie auf der Straße, Scharenweise. Man fragt, man schreit: „Was gibt’s?“ „Was soll der große Menschenkreis, Ist dort ein Betrunkener? Steht da ein Haus in Flammen?“ fragten sich die Leute. „Nein, ein Kind ist überfahren worden und blutend krümmt es sich auf der Straße; auf dem Pflaster liegen die zerrissenen Kleider. Wer hebt es auf? Wo wohnt es? Wie heißt es?“ Doch es scheint, als ob sich leise noch das Leben rege, und einer ruft: „Fasst an, wir tragen’s Heim, der Knabe braucht sofort Pflege!“ Dort unten in der Stadt, im Hintergässchen, wo der Jammer der Armut schreit, ist sein Heim: eine enge Kammer. Die Mutter war eine Witwe und kämpfte hart um ihr tägliches Brot mit Ehren zu erlangen. Es wollte aber nicht gelingen. So manche Nacht ging Willy hungrig zu Bett. Heute ist er abends noch hinaus zur Stadt geeilt um Zeitungsblätter zu verkaufen. Auf dem Weg überfährt ihn ein schwerer Wagen.

Man fragt: „Wohin mit ihm?“ „Zum ‚Kinder Hospital'“ Willy bringt man zum Hospital. Dort stehen in langen Reihen Bett an Bett. Er wird mit sanfter Hand in weiße Kissen gebettet. Der bleiche Knabe fühlt sich wie im Traum. Sein Leben lang musste er der Armut hartes Brot essen.

Willy leidet entsetzliche Schmerzen. Die Ärzte treten ein. Sie untersuchen ihn lange disputierend. O, Gott, sie wollen ihm morgen beide Beine operieren. Wie soll er das ertragen? Nein, o nein! Das ist zu furchtbar, das erträgt er nimmer. Er spielt so gern; im Schnelllaufen war er immer der erste unter allen Knaben.

Die Nacht bricht an. Im Hospital ist es still, nur Willy’s Angstgestöhn durchbricht das Schweigen. Da sieht er aus dem nächsten Bett ein Köpfchen lieblich zu sich hinunterbeugen und leise freundlich tönt es an sein Ohr: „Der Kleine muss so viel Schmerzen tragen. Willst du mir nicht deinen Namen sagen?“ „Ich heiße Willy.“, schluchzt das arme Kind. „Und ich heiße Liesi; bin schon lange hier.“ „O, Liesi, wie mir meine Wunden brennen, und morgen kommt der Doktor um mir beide Beine abzutrennen! Ist das nicht schrecklich, weißt du keinen Rat?“ Das liebe Mädchen schaut mit nassen Augen, mit leiderfülltem Blicke zu ihm hin. „Der Heiland“, sagt sie, „wird dich nicht verlassen.“ Doch, ach, vom Heiland wusste Willy nichts. Da fing Liesi an ihm vom lieben Heiland zu erzählen; wie vor vielen Jahren auf Bethlehems Gefilde, das Weihnachtslied der seligen Engelscharen gesungen wurde, vom Kindlein auf Marias Schoß und wie die Weisen ihre Gaben brachten und wie Herodes dann, der böse Fürst, dem Kindlein nach dem Leben trachten wollte. Willy lauscht; sein leises Antlitz glänzt. Von dem Knaben Jesu wusste sie zu erzählen, wie er den Eltern treu und folgsam war, und so gerne im Tempel verweilen wollte. „Er war so gut“, sagte Liesi, „dass niemand auf der Welt zu finden ist, der so ist, wie er war. Als Jesus groß war, zog er weit umher, und half den Armen, Kranken, Lahmen und Blinden. Er heilte alle, und sie wurden ganz gesund; seine Wunderhand brauchte sie nur zu berühren.“ Was Willy am meisten gefällt ist, dass man die Kinder zu Jesus führte. Er nahm sie auf den Arm und auf die Knie, küsste sie und legte seine Hände zum Segen auf ihr Haupt und betete, dass sie gut und fromm bleiben mögen bis ans Ende.

„Zuletzt“, hier fängt Liesi an zu weinen, „schlugen ihn die bösen Menschen an ein Kreuz, sie haben ihm mit Nägeln Hände und Füße durchbohrt, das war der Dank für seine Himmelsgaben.“ Nun weint Willy: „O, wo er stets so gut und so hilfreich gewesen ist – nun ist er tot. Ich habe gehofft noch durch seine Kraft geheilt werden zu können.“ Das arme Kind zittert in Fieberkrämpfen und drückt sein Gesicht weinend in die Kissen; die letzte Hoffnung scheint hinweg gerissen. Die kleine Trösterin erschrickt im nächsten Bette und trocknet sich schnell die heißen Tränen ab. „Nein“, rief Liesi, „Er ist nicht tot. Er lebt! Und welches Herz ihn betend sucht, das spürt auch sein segensreiches Wirken. Er kennt uns alle und man darf ihm jedes Leid und jede Sorge klagen. Ich habe es oft getan und jedes Mal gab er mir neue Kraft und half mir alles tragen. Wenn du betest, Willy, oh, wird er dich in deiner Not gewiss nicht verlassen. Du musst im Glauben seine Hand fassen.“

O, tröstliches Bild, wie dort in stiller Nacht, ein Kind bewegt durch Gottes Geist, dass es dem kranken Kinde neben ihm die schönsten Samariterdienste leistet. Und wieder fällt ein schwacher Hoffnungsstrahl in Willy’s Seele. „Liesi“, fragt er leise, „denkst du, er kommt in unser Hospital und weiß, wo ich bin und wie ich heiße?“ „Gewiss“, ruft Liesi, „Willy, glaube es doch, vor ihm ist keine Not verborgen; zum Helfen ist er immer gern bereit, bei Tag und Nacht, am Abend wie am Morgen.“ Dem kleinen Zweifler will’s nicht in den Sinn fallen, dass Jesus jeden mit seinen Nöten kennt. Ihn quält die Angst, er könne an ihm vorbei gehen. „Er sieht und hört mich nicht trotz meinem Beten“ – und Willy denkt nach, was er tun solle, damit ihn Jesus in seinem Leid sieht? Wird Jesus kommen ehe „der Morgen graut“ und ehe der Doktor kommt um ihn zu operieren? Ich weiß es“, flüstert er zuletzt, „ich will die Hand aufheben; sieht er dieses Zeichen, so merkt er wohl, das seiner ich bedarf, und wird mir die ersehnte Hilfe leisten.“

Der Tag bricht an, die Morgensonne wirft ihre goldenen Strahlen nieder auf Willy’s Bett. Dort liegt er so freundlich still; kein Schmerz wird mehr durch die armen Glieder gehen. Er hat ihn ausgekämpft, den letzten Kampf; er schläft den Schlaf, aus dem kein Leiden mehr erwacht. Die kleine weiße Hand hält er im Tode noch empor gestreckt; der Herr hat sie gesehen, die kleine Hand, das Notsignal, das ihm das Kind gesandt hat. Er kam und erlöste Willy von seinem Erdenleid und hat ihn zur ewigen Himmelslust befreit.

Auch du, mein Erdenpilger, sieh nach oben. Kennst du die Hand, die nie umsonst aus Erdenstaub und Erdennot zum Himmel emporgehoben wird? Es ist die Hand des kindlichen Glaubens.