Ich war noch ein kleines Mädchen, als ich eine Lüge beging – nicht mit Worten, aber mit der Tat. Sie erfüllt mich noch jetzt, sooft ich daran denke, mit tiefer Betrübnis.

Eines Tages wurde Besuch bei uns erwartet. Meine Mutter, die allerlei zu tun hatte, trug eine Zuckerdose aus Porzellan in die Küche und stellte sie auf den Tisch. Dann holte sie den Zuckerhut hervor, der in dunkelblaues Papier gehüllt war, und schlug die Spitze ab. Mit einem großen Messer und einem Hammer zerlegte sie diese in gleich große Stückchen. Ich schaute dieser Beschäftigung besonders gerne zu; denn hier und da sprang ein Zuckersplitter ab, und den durfte ich vom Boden aufheben und in mein kleines Leckermaul schieben. Da wurde die Mutter plötzlich aus der Küche gerufen. Schnell ergriff ich Messer und Hammer, um mir ein Stück Zucker abzuschlagen – obwohl ich wusste, dass es mir verboten war. Ich holte mit dem Hammer aus, traf aber ungeschickt die Zuckerdose und schlug ihr einen Henkel ab. Ich erschrak, denn die Dose war aus kostbarem Porzellan und meiner Mutter sehr viel wert. Schnell legte ich den Henkel an die Dose und lehnte dieselbe an die Wand, so dass der Schaden nicht erkennbar war.

Kaum war dies getan, so kam die Mutter und setzte ihre Arbeit fort. O, hätte ich damals der Stimme des Gewissens gefolgt und meinen Ungehorsam bekannt. Aber eine böse Stimme flüsterte: „Du kannst es später immer noch sagen.“ Leider gab ich dieser Stimme Gehör. Ein starker Schlag, den die Mutter mit dem Hammer tat, erschütterte den Tisch und der Henkel fiel von der Dose ab. Wenn meine Mutter jetzt Verdacht gegen mich geschöpft und mich angeblickt hätte, so hätte ich meine Schuld nicht leugnen können. Ich war zu verwirrt, aber ich sagte bloß: „Ich kann nicht begreifen, wieso der Henkel so leicht abgebrochen ist“. „Es ist unvorsichtig von mir gewesen, die Dose so nah an die Wand zu stellen“. Ich wollte gerade sagen: „Es ist nicht deine Schuld, liebe Mutter! Ich bin ungehorsam gewesen.“ Aber wieder flüsterte die böse Stimme: „Es nützt nichts, es der Mutter zu sagen, du kannst die Dose doch nicht mehr ganz machen.“ Ich schwieg und log, indem ich schwieg. Ich versuchte mein unruhiges Gewissen zu stillen, indem ich mir sagte, dass ich ja keine Unwahrheit ausgesprochen habe. Aber mit meinem Schweigen hatte ich die Mutter glauben lassen, dass ich unschuldig sei und hatte sie somit betrogen.

Einige Monate nach diesem Vorfall wurde die Mutter schwer krank und damit sie mehr Ruhe haben sollte, brachte man mich zu Verwandten. Eines Tages aber holte mich mein Vater wieder nach Hause und sagte tief betrübt, die Mutter werde bald sterben. Bei diesem Gedanken, meine Mutter zu verlieren, stand mir meine Lüge plötzlich in ihrer ganzen Abscheulichkeit vor meinen Augen. Auf dem Heimweg nahm ich mir fest vor, ihr jetzt alles zu bekennen. Aber als ich an ihr Bett geführt wurde, war sie so schwach, dass man mir nicht erlaubte, mit ihr zu reden. Ich durfte ihr nur einen Kuss geben und dann musste ich das Zimmer wieder verlassen. In derselben Nacht starb sie. Bittere Reuetränen weinte ich, als ich die teure Mutter so bleich und kalt daliegen sah. Sie hörte mich nicht, ich konnte ihr nichts mehr sagen, dass ich sie belogen hatte; sie, die mich so geliebt hatte. Viele Jahre sind seitdem vergangen, aber jedes mal, wenn ich zu meinem Vater ins elterliche Haus zu Besuch komme und auf dem Tisch eine Zuckerdose erblickte, so steht meine Sünde mit neuer Lebendigkeit vor meiner Seele und macht mein Herz traurig. Ich glaube, dass Gott mir die Sünde vergeben hat; aber ich kann sie mir nicht vergeben. Jedes mal, wenn ich ein Kind sehe, das – wäre es auch nur aus Spaß – andere zu täuschen versucht, geht mir ein Stich durchs Herz. Ja, ich möchte alle inständig bitten, doch nie eine Lüge auszusprechen oder andere etwas glauben machen zu wollen, was nicht vollkommen wahr ist.