Es war in der Dämmerung eines Winterabends. Schatten huschten im Zimmer geräuschlos hin und her, während das rötliche Licht des Feuers zwischen altmodischen Feuerlocken angenehm flackerte. Eine ehrwürdige Dame, der das hohe Alter zwar das Haar versilbert, das Herz aber frisch und jung gelassen hatte, saß sinnend in einem Lehnstuhl, welcher dicht ans Kaminfeuer herangezogen war. Plötzlich öffnete sich die Tür und ein Kind sprang an ihre Seite. „Nun, Bettchen“, sagte die alte Dame, indem sie ihre Hand zärtlich auf des Kindes sonnige Locken legte, „hast du auf dem Eis vergnügte Stunden gehabt?“ „Es war wunderbar schön, Tante Ruth. Willst du mir nicht eine deiner schönen Geschichten erzählen?“ Bettchen war das einzige Kind, ihre Mutter war kürzlich gestorben und das Kind war zur Tante zu Besuch gekommen, deren Herz sie durch ihr liebenswürdiges Betragen sofort gewonnen hatte. Aber Tante Ruth hatte tiefblickende Augen, und sie entdeckte bald, dass Bettchen nicht nur ungenau war, was die Wahrheit anbelangt, sondern dass sie es nur wenig zu Herzen nahm, wenn sie bei einer Lüge ertappt wurde. Gab es aber irgendeinen Zug, der Tante Ruth ganz kennzeichnete, so war es ihre unwandelbare Redlichkeit, und nichts verdross sie mehr als Falschheit. Der Grundsatz ihres Herzens war: „Ein Lügner soll nicht vor mir bestehen!“ Sie nahm sich vor, aus dem Charakter ihres Lieblings mit Gottes Hilfe das schädliche Unkraut auszujäten, koste es auch viel Mühe. Hierüber hatte sie nachgedacht und ihr Entschluss war gefasst. „Nimm deinen Schemel Kind und setze dich dicht neben mich.“ Gleich darauf waren die Augen des Kindes auf die Tante gerichtet. „Ich bin nun alt, Bettchen“, sie streichelte zärtlich die Stirn der Kleinen „und mein Gedächtnis versagt mir den Dienst. Aber ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als ich ein kleines, hüpfendes, blondhaariges Mädchen war, wie du. Du machst große Augen vor Verwunderung, aber wenn dir das Leben erhalten bleibt, Kind, wirst du ebenso alt werden wie Tante Ruth, ehe du dich versiehst.“

In jenen jungen Jahren war ich in der Schule in einer Elementarklasse mit einem kleinen Mädchen namens Dora zusammen. Sie war ein freundlich gesinntes, empfindsames Kind und eine sehr fleißige Schülerin. Sie schien sich gerne zu mir zu halten und ich musste ihre Gefälligkeiten schon hinnehmen. Aber ich mochte sie nicht gern leiden, denn sie übertraf mich oft in der Klasse, während ich, wenn sie nicht im Wege gewesen wäre, an die Spitze gekommen wäre. Die arme Dora konnte sich meine gelegentliche Kälte ihr gegenüber nicht recht erklären, denn ich war zu stolz, sie den Grund wissen zu lassen. Ich war ein wahrheitsliebendes Kind gewesen, Bettchen, aber der Neid versuchte mich und ich gab nach. Manchmal trachtete ich danach, die anderen Mädchen mit Vorurteilen gegen Dora zu überhäufen, und dies war der Anfang meines Betrügens. Sie war zu furchtsam, sich zu verteidigen und so gelang mir mein Vorhaben beinahe jedes Mal. So sollten wir einmal das Wort Unterricht buchstabieren. In ihrem gewöhnlichen sanften Ton buchstabierte Dora: U n t e r r i c h t. Die Lehrerin hatte sie missverstanden und sagte sogleich: „Falsch – die Nächste!“ Doch schnell wandte sie sich an Dora und fragte sie: „Hast du U n t e r i c h t gelesen?“ „Nein, Fräulein, ich sagte U n t e r r i c h t.“ Fräulein N. war noch immer im Zweifel, wandte sich schnell an mich und fragte: „Du hast es gehört Ruth, wie war es?“ Ein böser Gedanke stieg in mir auf, um sie in Schmach zu bringen und mich zu erheben. Ohne zu überlegen äußerte ich eine große Lüge: „Dora sagte U n t e r i c h t.“ Die Lehrerin wandte sich an Dora, aber diese war durch die Anschuldigung verwirrt und schwieg, während ihr gerötetes Gesicht und ihre tränenden Augen ihr das Ansehen der Schuld gaben. „Dora“, sagte die Lehrerin im strengen Ton, „eine Lüge hätte ich nicht von dir erwartet. Gehe an den letzten Platz in der Klasse und bleibe nach Schulschluss hier.“ Ich triumphierte, aber glücklich war ich nicht, denn die Lüge brannte in meinem Herzen. Dora war erniedrigt worden, und ich stand stolz an der Spitze unserer Klasse. Nachdem wir alle entlassen worden waren, gab ich mich meinen Kameradinnen gegenüber vor, etwas verloren zu haben und blieb im Korridor zurück.

Ich hörte die Lehrerin sagen: „Dora, komm her!“ Dann hörte ich die leisen Tritte eines Kindes. „Wie kannst du so lügen?“ „Fräulein, ich habe nicht gelogen.“ Als sie behauptete nicht gelogen zu haben, konnte ich durch das Schlüsselloch sehen, dass sie in ihrer Betrübnis über die Anklage und Furcht vor Strafe heftig zitterte. „Halte deine Hand her!“ Nun stand ich wie gefesselt. Ich hörte wie ein Schlag des harten Stocks nach dem anderen die kleine weiße Hand des unschuldigen Kindes traf. Wohl magst du deine Augen verbergen von mir, Bettchen. Ach warum redete ich nicht? Ein jeder Schlag tat mir weh, aber ich wollte meine Sünde nicht bekennen und so schlich ich leise von der Tür weg. Ich ging sehr langsam bis Dora daher kam. Ihre Bücher hatte sie in der einen Hand, während sie mit der anderen immer wieder die Tränen abwischen musste, die nicht aufhören wollten zu fließen. Sie schluchzte, als ob ihr das Herz zerbrechen wolle. Tief drang dieses Schluchzen in mein eigenes schuldbeladenes Herz. Als sie weinend weiter ging, stolperte sie und fiel. Ihre Bücher lagen zerstreut auf dem Boden. Ich raffte sie auf und gab sie ihr, indem sie ihre sanften blauen Augen, die in Strömen flossen, auf mich richtete. Sie sagte in weichem Ton: „Ich danke dir vielmals, Ruth.“ Mein schuldbeladenes Herz schlug schneller, aber ich wollte nicht reden. So gingen wir stillschweigend nebeneinander her.

Daheim angekommen sagte ich mir: „Was soll das eigentlich? Es weiß niemand davon und warum mache ich mir Gedanken?“ Ich entschloss mich, die verhasste Last durch Vergessen und Verstellung abzuwerfen und indem ich in unser gemütliches Wohnzimmer ging, lachte und plauderte ich, als ob nichts vorgefallen wäre. Aber die Last auf meinem Herzen wurde dadurch nur schwerer. Es waren nur die Folgen der Sünde. Das auf mich gerichtete Auge Gottes schien mich zu verzehren. Doch je schlimmer mir zumute war, desto lustiger stellte ich mich und mehr als einmal wurde ich durch meine Ausgelassenheit zurecht gewiesen, während ich in Wirklichkeit nur schwer die Tränen zurückhalten konnte. Endlich ging ich in meine Stube. Ich war nicht im Stande zu beten, ging schnell so zu Bett und schloss die Augen zu. Aber der Schlaf wollte nicht kommen. Das Ticken der alten Uhr schien mit jedem Augenblick lauter zu werden, als ob es mir Vorwürfe machen wollte, und als endlich die Mitternachtsstunde schlug, traf es mein Ohr wie Totengeläute. Ich wandte mich auf meinem Kissen hin und her, aber es war wie mit Dornen besät. Ihre milden blauen Augen, die in Tränen schwammen, schwebten mir immer vor. Die Schläge mit dem harten Stock hallten mir unaufhörlich in den Ohren. Da ich nicht im Stande war, diesen Zustand länger zu ertragen, verließ ich das Bett und setzte mich ans Fenster. Die großen Ulmen standen friedlich im Mondlicht da. Der deutlich abgegrenzte Schatten ihrer ausgebreiteten Zweige lag auf dem Boden. Der Kiespfad mit dem weißen Zaun, die vollkommene Stille, die draußen überall herrschte – alles schien meine Ruhelosigkeit zu verhöhnen, während das feierliche Halbdunkel der Mondnacht mich erschauern ließ. So tief, so in die Seele dringend, wie ich es noch nie empfunden habe. Ach Bettchen, ein strafendes Gewissen ist zu mächtig, als dass ein Kind dagegen ankämpfen könnte. Als ich vom Fenster zurücktrat, blieben meine Augen auf der schneeweißen Decke meines Bettchens haften, einem Geburtstagsgeschenk meiner Mutter. Alle ihre Geduld und Güte kamen mir ins Gedächtnis. Ich fühlte die Hand der Verstorbenen auf meinem Haupte. Noch einmal schien ich ihre zitternde Stimme zu vernehmen, als sie mit Inbrunst den Segen des Himmels auf ihr erstgeborenes Kind erflehte. Ich lehnte mich ans Fenster und fing an, heftig zu weinen. Aber Bettchen, Tränen konnten mir keine Linderung verschaffen. Meine Seelenqual wurde immer heftiger, bis ich schließlich verzweifelt zum Bett meines Vaters rannte. „Vater, Vater!“ Weiter vermochte ich nichts über die Lippen zu bringen. Seinen Arm zärtlich um mich schlingend legte er meinen weißen Kopf an seine Brust und so besänftigte er mich liebevoll, bis ich mich soweit beherrschen konnte, ihm die Ursache von alledem zu sagen. Dann flehte er ernst zum Himmel, dass sein Kind Vergebung erlangen möge. „Lieber Vater“, sagte ich, „willst du jetzt mit mir gehen, um die arme Dora aufzusuchen?“ Er antwortete: „Morgen früh, mein Kind.“ Die Verschiebung war mir höchst qualvoll. Doch ich versuchte meine Enttäuschung zu unterdrücken, erhielt einen Kuss von meinem Vater und kehrte auf mein Zimmer zurück. Aber der Schlummer floh noch immer meine müden Augen. Mein Verlangen, Dora um Verzeihung zu bitten, grenzte an Unsinnigkeit und indem ich auf den Morgen wartete, wurde meine Qual in den langen Stunden so unerträglich groß, dass ich noch einmal meinen Vater aufsuchte, tränenüberströmt neben ihm niederkniete und ihn anflehte, doch gleich jetzt mit mir zu Dora zu gehen. Dann fügte ich flüsternd hinzu, sie könne sterben, ehe sie mir vergeben habe. Er legte seine Hand auf meine heißen Wangen und sagte einen Augenblick nachdenkend: „Ich will mit dir gehen, mein Kind.“ In wenigen Minuten waren wir unterwegs.

Als wir uns der Wohnung der Frau Hedwig näherten, sahen wir Licht von einem Zimmer in das andere huschen. Von einem unbeschreiblichen Bangen und Beben ergriffen, drängte ich mich näher an meinen Vater. Leise öffnete er die Gartentür und schweigend gingen wir auf das Haus zu. Der Arzt, der eben aus der Tür trat, schien höchst erstaunt, uns zu solcher Stunde dort zu sehen. Worte vermögen nicht meine Gefühle zu beschreiben, als er uns auf die Frage meines Vaters mitteilte, dass Dora an einer Gehirnentzündung daniederliege. Ihre Mutter sagte mir, dass ihr seit mehreren Tagen nicht ganz wohl gewesen sei, aber dass sie trotzdem zur Schule gehen wollte. Gestern Nachmittag kam sie heim, schien aber ganz geistesabwesend zu sein. Sie aß kein Abendbrot und saß stumm am Tisch, als ob sie durch Herzeleid abgestumpft wäre. Ihre Mutter versuchte auf jeglicher Weise die Ursache ihres Leidens herauszufinden, aber vergebens. Sie ging mit demselben Besorgnis erregenden Aussehen zu Bett und nach kaum einer Stunde wurde sie gerufen. „In ihrem Fieber rief sie oft nach dir, liebe Ruth, flehte dich mit Innigkeit an, dich doch ihrer zu erbarmen und sie zu retten.“ Bettchen, mögest du nie erfahren, wie diese Worte mir ins Herz schnitten. Meine flehende Bitte, Dora nur eine Minute zu sehen, rührte ihre verwitwete Mutter. Indem sie gütig meine Hand – die Hand der Mörderin – nahm, führte sie mich ins Krankenzimmer. Als ich die arme Dulderin ansah, hatte ich keine Hoffnung mehr. Der Hauch des Todes ruhte bereits auf ihrer Stirn und auf ihren großen, blauen Augen. An ihrem Bette kniend flehte ich bebenden Herzens, ach so ernstlich um Vergebung. Doch als ich sie so sehnsüchtig bittend ansah, erkannte sie mich nicht in ihrem starken Fieber. Nein, mein liebes Bettchen, ich sollte nie den Trost der Vergebung von ihren Lippen hören. Als ich Dora wiedersah, lag sie wie im Schlafe. Der rötliche Fieberhauch war von ihren Wangen gewichen, deren Marmorblässe von ihren langen Augenwimpern beschattet wurde. Jene kleine weiße Hand, welche sie zitternd hinhielt, um die Schläge zu empfangen, lag nun lieblich gefaltet in der andern. Das Fieber hatte aufgehört und ihr schmerzentbranntes Herz stand still.

Mein Schmerz war vielleicht größer, als derjenige der Mutter, die ich ihres geliebten Schatzes beraubt hatte. Sie vergab mir, aber ich konnte mir selbst nicht vergeben. Mein Herzeleid rief ein Fieber hervor und in meinem Fieberwahn rief ich unaufhörlich nach Dora. Doch Gott erhörte das Gebet meines Vaters und ließ mich von der Krankheit genesen. Als die Spuren des Frühlings auf der Erde sichtbar wurden und die ersten Blumen auf dem Grabe Doras blühten, war es mir zum ersten Mal gestattet, es zu besuchen. Wieder brach ich in Tränen aus, als ich auf der weißen Marmorplatte Doras Namen und Todestag las. Auf dem frischen Rasen kniete ich nieder und wandte mich, wie ich mich noch heute gut erinnere, gläubig an unseren Erlöser. Dort wurde ich meine Last los und zu gleicher Zeit gestärkt.“

Dies alles erzählte Tante Ruth, indem sie ihre Hand zärtlich auf das in ihrem Schoß sich bergende Haupt legte. Die Tränen des armen Bettchens waren schon eine ganze Weile geflossen und nun schrie sie in ihrem Leid untröstlich. Ihre Tante versuchte nicht sie zu trösten, denn sie hoffte es läge Heiligung in diesem Leid. „Bete für mich“, flüsterte Bettchen, als sie endlich in Tränen aufblickend die Arme um den Hals ihrer Tante schlang. Aus vollem Herzen brachte Tante Ruth ihre Bitte für das arme, weinende Kind Gott dar. Nie vergaß Bettchen dieses Gebet, denn in einer Dämmerungsstunde brach durch die Reuetränen ein Licht über sie, heller als der Morgen und obgleich es Tante Ruth viel Überwindung gekostet hatte, diesen Schatten aus ihrer Vergangenheit zu zeigen, so fühlte sie sich doch tausendfach für ihr Opfer belohnt. Denn jenes junge Gesichtchen, lieblich wie ein Maienmorgen, dessen Schönheit oft durch Täuschung und Unwahrheit entstellt worden war, erglänzte mehr und mehr. In dem hellen Licht der Wahrheitsliebe, dem der Grund in der Seele des Kindes in dieser Stunde für immer gelegt wurde.