Im Jahre 1825 wurde ein reicher, junger Adliger aus Russland verdächtigt, an einem Anschlag gegen den Zar Nikolaus teilgenommen zu haben. Er wurde verhaftet und in der Stadt Peterburg (heutiges St. Petersburg) ins Gefängnis geworfen. Von Natur aus war er leicht aufbrausend, und das ihm angetane Unrecht erregte in ihm die tiefste Leidenschaft seiner Seele. So verbrachte er die erste lange Dezembernacht fluchend in seinem Zorn, und er fluchte abwechselnd dem Herrscher seines Landes, welcher seine Verhaftung befohlen hatte und dem Herrscher im Himmel, der sie zugelassen hatte. Müde warf er sich zuletzt auf sein Strohlager und blieb stundenlang im stummen Schmerz liegen. So vergingen acht schreckliche Tage.

Am Abend des neunten Tages besuchte ihn ein ehrwürdiger, gläubiger Gefängnisprediger, um mit ihm für ihn zu beten. Er bat den Gefangenen, der Einladung des Heilands zu folgen, der spricht: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ (Matthäus 11,28). Ein spöttisches Gelächter war die Antwort. Beim Weggang jedoch gab ihm der Alte eine Bibel und bat ihn, sie zu lesen. Kaum hatte sich die Tür geschlossen, da schleuderte der junge Mann die Bibel in die Ecke und rief: „Ich will nichts zu tun haben mit diesem Buch eines Gottes, der Ungerechtigkeit zulässt.“ So blieb das heilige Buch tagelang unberücksichtigt liegen.

Die Zeit verging nur langsam. Stunden schienen für ihn wie Tage und Tage wie Monate. Um seine Ungeduld zu mindern nahm er die Bibel und öffnete sie. Der erste Vers, auf den sein Blick fiel, hinterließ in ihm einen tiefen Eindruck: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen.“ (Jesaja 50,15). Doch als ob er sich dafür schämte, dass das Bibelwort ihn bewegte, schloss er das Buch schnell wieder. Am anderen Tag las er wieder darin und er staunte sehr über die Weisheit, die die Bibel besaß und wurde zuletzt so angezogen, dass er sehnsüchtig das Tageslicht erwartete, um in seiner Bibel zu lesen und zu forschen. Es dauerte nicht mehr lange, so begann er den Zustand seines Herzens zu erkennen und einzusehen, dass sein Herz „ein trotzig und verzagtes Ding“ sei. (Jeremia 17,9). Er fühlte mehr und mehr, dass er vor Gott ein großer Sünder sei, der ewige Strafe verdiene. In seiner Verzweiflung fiel er auf die Knie und rief: „Rette mich Gott, oder ich bin verloren! O Herr, wasche mich rein von meinen Sünden! Tilge sie mit deinem teuren Blute Christi! Um Jesu willen sei mir armer Sünder gnädig!“

Sein Gebet fand Erhörung und er fühlte, dass ihm seine Sünden vergeben waren. Anstatt nur noch über die Ungerechtigkeit anderer zu murren, trauerte er über seine eigene Sündhaftigkeit und dachte über die Liebe des Heilands nach. Er fragte nach dem Gefängnisprediger, und man kann sich die Freude des treuen Mannes denken, als er nun beim Eintritt in die Zelle den früher so wütenden Gefangenen mit sanften Zügen da sitzen sah, glücklich in dem Bewusstsein, dass Christus nun auch sein Heiland war. „Zuerst“, sagte er, „hielt ich meine Gefangenschaft für das größte Unglück, doch nun habe ich gesehen, warum ich hierher kommen musste, und ich danke Gott dafür.“

Von der Zeit an wartete er das Verhör geduldig ab und bald wurde das Todesurteil ausgesprochen. Mit Gelassenheit vernahm er den Ausspruch und schrieb folgenden Brief an seine Verwandten: „Ihr werdet in den Zeitungen gelesen haben, das ich am 15. Februar gehängt werden soll. Weint nicht, sondern freut euch, denn durch Gottes Gnade fürchte ich mich nicht mehr zu sterben. Ich weiß, an wen ich glaube! Eines Christen glücklichster Augenblick ist der Letzte, weil er dann zum Himmel geht, wo er den Herrn ewig sehen wird. Dort werde ich euch erwarten in dem gesegneten Lande, wo weder Gefängnis, noch Leid oder Sünde sein wird. Ich wünschte, dass ich euch noch einmal auf dieser Welt sehen könnte, aber weil ich es nicht darf, verzichte ich gerne darauf. Meine Tränen fallen herab so lang ich schreibe, aber doch bin ich glücklich und voll Friedens, wenn ich der herzlichen Verheißungen gedenke, die den Kindern Gottes gegeben sind. Diese Glückseligkeit wird schon mein sein, wenn ihr diese Zeilen erhaltet. Möge der allmächtige Gott, dessen Nähe ich jetzt in meiner Zelle so völlig genieße und der mich inmitten meiner Ketten frei gemacht hat, euch trösten und mit euch sein bis ans Ende.“

Als der Prediger ihn am Abend vor dem bestimmten Tage verlassen hatte, fiel der Gefangene auf die Knie und befahl seine Seele im ernsten Gebet dem Heiland an. Darauf schlief er einige Stunden ganz ruhig. Vor Tageslichtanbruch wurde er von Schritten und Stimmen geweckt, die aus dem Gang zu hören waren. Die Schritte kamen näher an seine Zelle. „Sie kommen bestimmt absichtlich früher, um mich zu holen“, dachte er, und sein Herz schlug schneller. Die Tür wurde geöffnet und eine große, edle Gestalt trat herein, in welcher er sofort den Zar erkannte. Vor kurzem wurde ein anderer Mann festgenommen, welcher als Mitglied der Verschwörer galt. Denn man fand bei ihm einen Brief mit folgendem Inhalt: „Wir haben alles Möglichste versucht, um Herrn W. zu überzeugen, aber es war vergebens. Er erklärte, seinem Herrscher treu zu bleiben bis in den Tod.“

Das Blatt wurde sofort dem Zar überbracht und nun kam er selbst, um ihn zu befreien. „Noch einige Stunden später und ich hätte meinen besten Offizier verloren. Vergeben Sie mir meinen unbewussten Fehler und vergessen Sie diesen Tag nicht, denn ich befördere sie heute zum General und übertrage Ihnen das Schloss S., wo Sie, hoffe ich, noch viele glückliche Jahre erleben werden!“

Von der Zeit an lebte der General als ein wahrhaftiger Christ. Es war seine größte Freude, die Armen und Bedrängten zu besuchen und ihnen Trost zu bringen, welchen er selbst in dem Evangelium gefunden hatte. Er ließ in der Nähe seines Schlosses ein großes Hospital und ein Obdachlosenheim bauen. Dort ging er oft von Bett zu Bett und von Zimmer zu Zimmer, allen erzählend von der Liebe Christi und der Gnade Gottes, die auch ihn erlöst hatte. Nicht nur vom Gefängnis, sondern auch vom ewigen Tode.